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2.1.3. Lehr-/Lernziele, Kompetenzen und Spezifika im Kontext kunstpädagogischer Bildbetrachtung

Im Kern ist in Vischers Bildbetrachtung und ‑kritik bereits angelegt, worum es in kunstpädagogischen Vermittlungskontexten gehen sollte:

 

- Ästhetische Phänomene in ihrer Eigengesetzlichkeit sehen lernen,

- Wirkungen erleben, beschreiben und bildnerisch begründen

- sowie ästhetisch beurteilen können,

- um einerseits den wechselseitigen Bezug zwischen Subjekt und Welt im historischen Kontext erschließen,

- anderseits um als Transferleistung Wirkungen in der eigenen bildnerischen Praxis steuern zu lernen.

 

Dabei müssen das erste Sehen und Erkennen kein rein visueller Akt bleiben. Das Sehen über die nachzeichnende Handlung als spezifisch kunstpädagogische Methode führt nicht nur zu einer detailreicheren Wahrnehmungserkenntnis; sie führt an Punkte der Wahrnehmung, die Problemstellen und Entscheidungen des handelnden Künstlers offenbaren sowie Darstellungsabsichten. Es kann also interessant sein, in ein Lehrvideo via Film oder Lege-Trick das Nachzeichnen eines Kunstwerkes zu integrieren, weil man so gezwungen ist, ganz genau hinzusehen. Dies sieht man an einer fotografierten Nachstellungsübung (Abb. 6) der Skulptur von Canova Amor und Psyche von 1793 (Abb. 7), und einer zeichnerischen Analyseskizze (Abb. 8), die Studierende der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg anfertigten. Sofort wird klar, dass die dargestellte Haltung der Figuren von Canovas Skulptur auf ein Publikum hin konzipiert ist und dieses emotional bewegen möchte: Canova bedient sich einer Pathosformel und orientiert sich nicht an einer natürlichen Haltungsstudie zweier Liebender. Im Vergleich mit Rodins Skulptur Der Kuss von 1886 (Abb. 9) wird dies noch ersichtlicher.

 
Abb. 6 Smartphone-Foto, Studierende der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Wintersemester 2017-18

 
 Abb. 7   Antonio Canova, Amor und Psyche, 1787-1793, Mamor, 155 cm, Louvre, Paris 

 
Abb. 8 Kompositionsskizze, Studierende der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Wintersemester 2017-18   

 
Abb. 9 Auguste Rodin, Der Kuss, 1886, Mamor, 184 x 111 x 118 cm, Musée Rodin, Paris           

 
 

Speziell an Schulen der Gestaltung kam vor allem die zeichnerisch-analytische Beschreibungsmethode zum Einsatz, etwa durch Franz Čižek (1865 – 1965) um 1900 an der Wiener Kunstgewerbeschule oder durch Johannes Itten (1888 – 1967) am Weimarer Bauhaus in den 1920er-Jahren (vgl. Schmitz in Fiedler/Feierabend 2006, S. 242–43; Schütz 2002, S. 53–59). Über den zeichnerischen Nachvollzug und das formale Zerlegen eines Kunstwerks in Skizzen zur Komposition, zu Kolorit‑ und Lichtverteilung sowie über Form‑ und Strukturübungen zur Erarbeitung grundsätzlicher Gestaltungsgesetze hat sich eine Methode herausgebildet, die vornehmlich von Kunstpädagogen vertreten und ausgeübt wurde. Erinnert sei daran, dass bereits das Bildungsbürgertum des späten 18. Jahrhunderts und des 19. Jahrhunderts seine gesammelten Eindrücke auf Reisen und Besuchen von Kunst- und Kulturstätten in Briefniederschriften und erzählten Tagebucheinträgen teilte, in denen sich neben schriftlichen Beschreibungen eben auch Skizzen befanden. „Noch die Forschergeneration von Wölfflin“, schreibt Rebel, „hat sich mit dem Zeichenstift in der Hand in den Augenblick der Autopsie mitgestalterisch vertieft, daraus jene Klarheit erworben, aus der die Bilderinnerung wie die schriftlichen und mündlichen Verbalisierungen später zehren konnten.“ (Rebel 1996, S. 222) Heinrich Wölfflin war ein Kunsthistoriker.

Es war der als Maler ausgebildete Kunsthistoriker Max Imdahl, der den Weg der Erschließung über eine praktische Seherfahrung verteidigte. Ein solcher Zugang suche, dem Medium Bild eine eigengesetzliche und nicht der Darstellungsfunktion unterworfene Sinnhaftigkeit zuzuschreiben. „Der Beschauer möge sich auf die Werke einlassen, er soll sie nicht vorschnell als bloße Selbstverständlichkeiten vereinnahmen [...]“ (Imdahl, 1982, S. 93), verlangte Imdahl. Auch das ist wichtig für ein Lehrvideo zu bedenken: Wie unterstütze ich diesen Seh-Akt des Entdeckens, Staunens? Wie führe ich durch ein Bild? Setze ich Sprache ein oder Zeigemittel? Gibt es eine animierte Figur, etwa der/die Maler*in selbst oder ein Symbol? Setze ich Hotspots, die neugierig machen? Wie gestalte ich den Einstieg? Experimentelle und spielerische Methoden wurden vornehmlich in der Museumspädagogik entwickelt, um den Einstieg in die fremde Bildwelt zu erleichtern. Kunstwerke werden de‑ und rekonstruiert, nachgestellt oder in einem anderen Medium ausgeführt. Bei einem Perzept (In der Wahrnehmungspsychologie meint Percept den Verknüpfungsakt der Wahrnehmung, in dem das Bild und die durch lange Seherfahrung angelegte Vorstellung des Betrachters zusammentreffen. „Percepte kann man im Kopf, im Medium der Sprache und im Medium ästhetischer Praxis bilden, also gedanklich, verbal oder visuell“ (Otto/Otto, 1987, S. 51). Otto und seine Frau setzen voraus, dass es im Sprechen zu Bildern nur Entsprechungen, aber keine Übereinstimmung geben könne.) und der bei den Surrealisten entlehnten Methode der écriture automatique (Man sagt zu einem Bild lauter Begriffe, die einem spontan einfallen; fällt einem einmal nichts ein, wiederholt man einfach den letzten Begriff mehrmals. Solche Begriff-Protokolle sind oft sehr aussagekräftig.) geht es beispielsweise um die Wahrnehmung als subjektive Erfahrung. Weitere Methoden wären der fiktive Dialog zwischen Bildfiguren oder Betrachter und Bildfiguren, die Methode des chinesischen Körbchens mit assoziativen Gegenständen als Aufhänger zum Bildgespräch, die 1986 von Heiderose Hildebrand am Museum Moderner Kunst, Palais Liechtenstein, in Wien entwickelt worden war, oder das Storyboard und szenische Spiel (vgl. Bertscheit, 2001/ Wagner/Czeck 2008, S. 45-54). Diese Methoden können aber immer nur dem Einstieg dienen; die mehrschichtige Bildanalyse, das Bildgespräch und die historische Anbindung ersetzen können sie nicht.

Es kristallisiert sich eine weitere kunstpädagogische Besonderheit heraus, nämlich das bewusste Einlassen auf die Eigengesetzlichkeit von Bildern im Verbund mit dem Einlassen auf eine Zielgruppe. Für einen unter erzieherischen Aspekten begründeten Vermittlungsansatz steht der Hamburger Kunsthallen-Direktor Alfred Lichtwark (1852 – 1914). Er setzte auf eine „Erziehung des Auges und des Herzens“ (Lichtwark 1912, S. 17) und nicht auf die Vermittlung von stilgeschichtlichen Unterscheidungen oder kunsthistorischen Entwicklungsdetails. Vielmehr suchte er an der Lebenswelt der 14-jährigen Mädchen einer höheren Töchterschule anzuknüpfen. Damit ist ein grundlegender Schritt auf dem Weg eines auf Augenhöhe von Kindern und Jugendlichen angepassten Bildverstehens getan, nämlich die entsprechenden Vorstellungswelten und Erlebnisräume zu öffnen, in die das zu betrachtende Kunstwerk integriert werden soll. Schließlich sind Bilder, wie Hubert Sowa und Bettina Uhlig schreiben, „Verständigungsgesten im situativen und geschichtlichen Zusammenhang menschlicher Praxis.“ (Sowa/Uhlig 2006, S. 13) Aus kunstpädagogischer Sicht scheint es unumgänglich, entsprechend der Ausprägungsvielfalt von Bildern ein methodisches Repertoire anzulegen, das die Niveaustufen des Bildbetrachtungsprozesses von Anfang an in einer Pendelbewegung zwischen Sach- und Subjektorientierung mitdenkt: 

1_Eine strukturierte Beschreibung domestiziert in gewisser Weise die Sofortwirkung des Bildes und bringt das sehende Ich und das sehende Wir einer Gruppe zusammen. 2_Der analytische Prozess betreibt in enger Verschränkung von formal-stilistischen und inhaltlichen Aspekten Ursachenforschung zu Wirkung und Bedeutung, sodass die individuell gelenkten Zugangswege entsprechend der Komplexität des Sachgegenstandes auf diesen hin in einer Erklärungsbewegung zusammengeführt werden. An diesem Punkt muss, wie Oscar Bätschmann es einfordert, als Grundvoraussetzung für ein gewolltes Verstehen, 3_eine „Bewußtmachung [sic] des historischen Abstandes“ einsetzen sowie deren „Überwindung, indem man einen Standpunkt einnimmt, welcher der historischen Stufe des Werkes entspricht.“ (Bätschmann in Kaemmerling 1994, S. 462) Nur auf dieser Stufe lassen sich 4_Bilder interpretieren, d. h. in ihrem Entstehungskontext verstehen und anschlussfähig machen an das eigene, individuelle Erleben, Deuten und Bewerten von situativen Handlungskontexten.

Soll Bildkompetenz erreicht werden, heißt das, Bildern in ihrer Komplexität zwischen sinnlicher Wirkung und intendierter Botschaft nicht ausgeliefert zu sein, sondern diese mündig sich erschließen und formal-gestalterische Bildmittel für den eigenen Bildproduktionsprozess fruchtbar machen können. Aufgabe wird es also sein, diese Herausforderungen nun auch auf das digitale Format eines Lehrvideos anzuwenden!