2.1.4. Was lernt man an historischen Bildern?

Ein Bildbeispiel soll noch einmal konkret auf den Punkt bringen, was man an historischen Kunstwerken u.a. lernen kann: Jean Siméon Chardin (1699-1779), Der Knabe mit dem Kreisel, 1738, Öl auf Leinwand; 67 x 76cm, Paris: Louvre.  

Methodisch werden der formal-ästhetische, der stilistische und der soziologische Ansatz verknüpft.

 
Abb. 10 Jean Siméon Chardin, Der Knabe mit dem Kreisel, 1738

Der französische Maler Jean Siméon Chardin stellte 1738 dieses Portrait (Hüftstück) des kleinen Sohnes seines engen Freundes Charles Godefroy aus. Man sieht den ca. acht Jahre alten Jungen vor einem Tisch mit herausgezogener Schublade stehend, aus der ein Kreidestift mit Halterung ragt. Zudem liegen zwei Bücher auf dem Tisch sowie ein zusammengerolltes Papier. Auf dem schwarz eingebundenen Buch steht ein Tintenfass mit Schreibfeder darin. Allerdings sind die Bücher mit dem Schreibzeug beiseitegeschoben, um Platz zu haben für das Spiel mit einem kleinen Kreisel.

Was lernt man über Malerei: Wie malt man ein Porträt? Welche Möglichkeiten habe ich, die Person ins Bild zu setzen? _ frontal, im Profil, in Dreiviertel-Ansicht, im verlorenen Profil (Kopf ist vom Betrachter aus der Schulter heraus abgewandt) Was verbindet man als Betrachter mit der jeweiligen Kopfdrehung? _ Selbstbewusstsein, Interesse für etwas außerhalb des Bildes, Verträumtheit, Nachdenklichkeit, Scham, etc. Wie viel zeige ich von der Person und ihrem Umfeld? _ Büste, Bruststück, Halbporträt, Hüftstück, Kniestück, Ganzkörperporträt. Zeige ich, was die Person als Beruf ausübt, was sie privat beschäftigt? Zeige ich die Person in einem Innenraum oder in der Natur? Wie setze ich die Person ins rechte Licht? _ Hier etwa werden der Kopf des Jungen und die Stelle auf dem Tisch, auf der der Kreisel sich dreht, beleuchtet. Das Licht kommt von links, was man an dem Schlagschatten des Kreisels sieht. Man sieht das Gesicht und den Kreisel besonders gut, weil der Maler farblich das malerische Prinzip der Valeur-Malerei (= Farben einer Farbwert-Reihe; warme Brauntöne) einsetzt. Gleichzeitig operiert Chardin mit Kontrasten: einem Hell-Dunkel-Kontrast und einem Warm-Kalt-Kontrast (Brauntöne = warmes Umfeld versus hellblau = kalt für die Weste unter dem Justeaucorps = Herrenrock in Braun). Insgesamt modelliert der Maler die Übergänge ganz weich, was man mit der lasierenden Malweise gut kann. Lasierend heißt, dass mehrere verdünnte Farbschichten übereinandergelegt werden. Die Ölfarbe wird mit Malmittel oder Terpentin verdünnt. So erscheint der Junge in einem weichen Licht, was hilft, ihn als kindlich zu empfinden.

Woran erkenne ich, wann das Bild gemalt wurde? Der Junge trägt eine Perücke mit einem Schwänzchen, das mit einer Schleife abgebunden ist. Die graue Perücke ist weiß gepudert. Neben dem Knabenrock, dem Justaucorps, sieht man eine hellblaue Brokatweste und am Hals sieht man ein Halstuch, das z.T. auch als Jabot in Rüschenform getragen wurde. Rock und Weste wurden nicht täglich gewaschen, wohl aber das weiße Halstuch oder Krägen, damit man sauber aussah. Der weiße Kragen diente auch dazu, Flöhe zu fangen, die gerne auf die Farbe Weiß gehen. Man glaubte noch, Wasser übertrage Krankheiten, weshalb es mit der Hygiene schlecht bestellt war. Diese Kleidungsmode verweist auf das Rokoko (Stilepoche = Spätphase des Barocks) sowohl in der pastelligen Farbigkeit der Weste als auch, was die Schleife an der Perücke angeht. Das Bildsujet an sich: Ein Kind gibt den Hinweis, dass wir in der Zeit der Aufklärung sind, also am Übergang vom Rokoko zum Klassizismus. Zuvor waren Kinder wie kleine Erwachsene dargestellt und meist nicht alleine auf einer Porträtdarstellung, sondern wenn, dann im Zusammenhang mit der Familie. In der Aufklärung nimmt man zum ersten Mal Kinder als eine eigene Altersstufe wahr mit spezifischen Bedürfnissen (vgl. Jean-Jacques Rousseau: Émile oder über die Erziehung, 1762) Es gibt bei diesem Genrebild aber keine auffällige Moral-Lektion, was typisch für das Barockzeitalter gewesen wäre. Vielmehr darf der Betrachter interessiert dem Kind bei seinem Spiel zusehen. Das Kind wird also explizit in seinem Kind-Sein dargestellt. Der Betrachter ist nichts als neugieriger Betrachter, er richtet nicht, fällt kein Werturteil. In der Aufklärung sucht man über genaue und vergleichende Beobachtung nun Wissenschaft zu betreiben. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“, schreibt Friedrich Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1793. Das kindliche Spiel wird gesellschaftlich neu aufgewertet. Auch in seinen Stillleben ist Chardin nur noch stiller Beobachter und Genießer. Es gibt keine Vanitas-Stillleben mehr, die noch typisch für das Barockzeitalter waren. Auch zeigt Chardin nun das Bürgertum mit seinen Bediensteten als bildwürdig. Es sind also nicht mehr allein die Adeligen oder der Klerus, die porträtiert werden. Auch werden die Bürgerlichen nicht wie im Barock die Bauern als Tölpel für negative Moralbotschaften in Genrebildern gezeigt. Chardin begleitet vielmehr das Bürgertum, dem er selbst angehörte, neutral bei seinen Tätigkeiten.

Für die Schule oder einem Führungskonzept in einem Museum/einer Ausstellung würde es sich anbieten, Kinderbilder nun noch aus der Romantik, dem Biedermeier, dem Impressionismus und von Picasso im Vergleich anzusehen. Speziell könnte man herausarbeiten, wie Farbe eingesetzt wird in ihren unterschiedlichen Funktionen als Gegenstands-, Erscheinungs-, Symbol- oder Ausdrucksfarbe und welche Wirkung sich jeweils ergibt sowie welche Aussage über das Kind-Sein der/die MalerIn jeweils damit verbindet. Gerade auch in einem Lehrvideo könnte man abschließend ein Leporello mit Vergleichsbildern einbauen. Für ältere Schüler*innen oder Erwachsene kann auch eine typische Gender-Ansatz-Frage interessant sein: Stellen Künstlerinnen Kinder anders da (Bildausschnitt, Farbigkeit, Ausdruck, Art des Spiels…) als Ihre männlichen Kollegen?

 

Aufgabe 2 c: Schreiben Sie alle Fachbegriffe geordnet nach Material/Technik – Gestaltung – Inhalt/Motiv noch einmal zusammen und erläutern Sie diese mit einer knappen Definition! Sie dürfen dabei natürlich das Online-Lexikon Wikipedia benutzen! (Tipp: Immer auch die englische Version nachlesen, um zu prüfen, ob die Eintragung valide ist.)